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Ein Gespräch zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie - Teil 1

Homeschooling, Homeoffice, Kontaktbeschränkungen – wie Corona unsere Nerven auf die Probe stellt. 2020 – wer hätte es Anfang des Jahres gedacht – markiert einen Wandel. Seit der Covid-19-Erreger zu Beginn des Jahres allgemein bekannt wurde, leben wir unter anderen Bedingungen und mit einem neuen Bewusstsein.

Hannoversche - im Interview

Denkt man über die gesellschaftlichen Auswirkungen nach, kommen Fragen nach der persönlichen Bewältigung der Pandemie im Alltag auf; neben den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Risiken sind hier besonders die Einschränkungen des sozialen Lebens gemeint. Kann die „neue Normalität“ auch psychische Auswirkungen auf das einzelne Individuum haben? Wir gehen dem Thema nach und beleuchten die seelischen Auswirkungen im Umfeld der Pandemie: Ein Gespräch mit Gudrun Jay-Bößl, Heilpraktikerin für Psychotherapie mit eigener Praxis in Hannover.

 Gudrun Jay-Bößl, Heilpraktikerin für Psychotherapie  Gudrun Jay-Bößl, Heilpraktikerin für Psychotherapie

Gudrun Jay-Bößl, Heilpraktikerin für Psychotherapie

Frau Jay-Bößl, aufgrund Ihrer therapeutischen Beratung sind Sie mit Menschen im Austausch, die sich in schwierigen persönlichen Situationen an Sie wenden. Inwiefern zeigen sich die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Ihrer Therapiearbeit?

Ich erlebe in meiner Arbeit mit den Klienten, dass sie nicht ursächlich wegen Corona zu mir kommen. Es kann aber ein zusätzlicher Auslöser sein, der bestehenden negativen und mitunter dauerhaften Stress verstärkt. Dabei sind es einerseits Einsamkeit und Isolation, die Negativerfahrungen verstärken können. Aber auch das Gegenteil, zu viel räumliche Nähe, kann Stress verursachen. Denken Sie beispielsweise an ein berufstätiges Paar mit Kindern, das vielleicht schon akute Paarprobleme hat: Je nach beruflicher Situation müssen beide gleichzeitig im Homeoffice arbeiten. Zusätzlich gilt es, Homeschooling, Kinderbetreuung und Haushalt gleichzeitig zu organisieren.

In einer kleinen Wohnung, in der es keine Rückzugsmöglichkeiten gibt, kann das eine Herausforderung bedeuten, die die Menschen sehr belasten kann. In diesem, aber auch in anderen Fällen, in denen Menschen allein mit der veränderten Situation zurechtkommen müssen, verstärken die Auswirkungen von Corona also mitunter die ohnehin vorhandenen Sorgen und Vorbelastungen. Das kann großes Konfliktpotenzial bergen oder auch in eine persönliche Krise führen – und Stress für die Seele bedeuten!

Welche Sorgen treiben Menschen im Corona-Umfeld um?

Wie gesagt, kommen die Menschen nicht ursächlich aufgrund von Corona zu mir, sondern, weil sich bestehende Sorgen und psychische Belastungen unter dem Einfluss von Corona verstärkt haben. Natürlich sind die Gründe individuell und die dahinterstehenden Störungsbilder können ganz unterschiedlich sein. Als Heilpraktikerin für Psychotherapie diagnostiziere ich nach der International Classification of Diseases (ICD 10), die beispielsweise allein für depressive Erkrankungen mehr als 30 Formen der Ausprägung kennt. Aber nicht nur Depressionen, auch neurotische Konzepte, die sich beispielsweise in Anpassungsund Belastungsstörungen zeigen, können ausschlaggebend sein.

Also zum Beispiel, wenn Menschen Veränderungen oder Verluste erlebt haben, in einer Krise sind oder sonstige negative Erfahrungen gemacht haben. Dann sind sie besonders verletzlich. Auch können bestehende Traumata im Pandemie-Umfeld verstärkt hervortreten. Daraus können sich negative Glaubenssätze entwickeln, die starke Treiber für Stress sein können.

Das gesellschaftliche Leben ist in diesen Zeiten weitgehend zum Erliegen gekommen und es gibt wenig Alternativen für Aktivitäten außerhalb der eigenen vier Wände. Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die teilweise erheblichen Einschränkungen des sozialen Lebens?

Es ist für viele Menschen eine große Herausforderung. Das betrifft Menschen, die allein leben, genauso, wie Menschen mit Partner oder Familie. Wir sind nun einmal soziale Wesen. Für Alleinstehende kann diese Entwicklung besonders schwierig sein, da sie gerade in diesen Zeiten auf einen regelmäßigen persönlichen Austausch verzichten sollen. Das kann aufs Gemüt schlagen und sich mitunter als dauerhafter Stressfaktor manifestieren. Laut eines Artikels in der Hannoversche Allgemeine Zeitung leben in Deutschland heutzutage 17,6 Mio. Singles (HAZ, Dezember 2020), darunter auch viele junge und bewusst Alleinlebende, also nicht nur ältere Singles, getrennt oder verwitwet. Wenn in diesen Fällen das soziale Leben in allen Facetten auf längere Sicht wegbricht, kann es schon problematisch werden.

Nochmal konkret nachgefragt: Welche Bedeutung bekommt im Corona-Umfeld das Stichwort Einsamkeit?

Zu den psychosozialen Stressoren gehört auch die Einsamkeit. Das ist im Corona-Umfeld, wie gesagt, ein wichtiges und brisantes Thema mit vielen Facetten. Es ist insgesamt Teil meiner therapeutischen Arbeit, die psychischen Hintergründe zu beleuchten und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Ziel ist, das individuelle Leiden daran zu lindern. Wie gesagt, fokussiert mein Tätigkeitsbereich auf die psychischen Leiden und deren Verarbeitung bzw. Veränderung.

Im Geschäftsalltag, aber zum Teil auch im Privatleben, ersetzen derzeit weitgehend digitale Formate das persönliche Gespräch vor Ort. Glauben Sie, dass Menschen die fehlenden Sozialkontakte durch virtuelle Formate ausgleichen können?

Meine persönliche Überzeugung ist: Nein. Das glaube ich nicht! Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wir Bindung brauchen, weil wir sonst verkümmern. Das gilt für jede Art von Beziehung, sei es im rein geschäftlichen oder im privaten Bereich. Hier ist neben den psychischen und sozialen Faktoren übrigens das Bindungshormon Oxytocin wichtig. Dies spielt schon im Aufbau der Mutter-KindBeziehung rund um die Geburt eine wesentliche Rolle und bleibt im zwischenmenschlichen Miteinander essenziell. So ist es auch für die spätere Entwicklung ein essenzieller Begleiter, um Empathie aufzubauen und zu halten - ein wichtiger Skill in der zwischenmenschlichen Interaktion.

Wie schaffen Sie es angesichts der beschriebenen Bedingungen, diese spürbare Nähe zu vermitteln? Gerade, wenn Menschen aus dem seelischen Gleichgewicht geraten sind, ist eine persönliche Gesprächsebene doch sicher wichtig in der therapeutischen Arbeit…

Ja, die persönliche Ebene ist essenziell für einen Therapie-Erfolg, um in einen vertrauensvollen Dialog zu treten. In meiner Praxis habe ich einen praktikablen Weg gefunden, um eine solche größtmögliche Nähe zu meinen Klienten aufzubauen – im Einklang mit den Hygieneauflagen: Eine große Plexiglasscheibe. Denn sich in Gänze sehen zu können, macht die vertrauensvolle Zusammenarbeit leichter. Auf diese Weise kann ich wie gewohnt weiterhin jedes noch so kleine Signal in meinem Gesprächspartner wahrnehmen und darauf reagieren, ohne ein Infektionsrisiko für uns beide.

Was ist das Gefährliche an einer dauerhaften Stressbelastung?

Ich gebe ein Beispiel - ein verbreitetes Phänomen, das sich im Corona-Umfeld als besonders problematisch erweist, ist, wenn Menschen nicht „Nein“ sagen können. Das mag profan klingen, bedeutet aber, dass sich diese Menschen nicht abgrenzen können. Sie haben es nicht gelernt, Widerstand zu leisten - aus verschiedenen Gründen. Daraus haben sie für sich das Muster etabliert, „aushalten zu müssen“. Gerade im Zusammenhang mit den Aspekten rund um die besprochene Alternativlosigkeit, nicht oder schwer ausweichen oder abgeben zu können, kann das Stress verstärken. Die Betroffenen muten sich oft viel zu viel zu. Der Stress kann dann noch weiter ansteigen. Sie sagen nicht „Nein“, nicht im Beruf, nicht gegenüber dem Partner, nicht in der Kinderbetreuung, nicht im Haushalt und auch nicht beim Einkaufen – die Liste ist lang.

Hält dieser Zustand zu lange an, etabliert sich der negative Stress, der das Hormon Cortisol erzeugt. Wird dauerhaft zu viel Cortisol ausgeschüttet und sind dabei die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin verstärkt aktiv, baut sich der Stress, der evolutionsbedingt eigentlich gedacht ist, um schnell fliehen oder kämpfen zu können, nicht mehr ab. Dann schwächt diese „dauerhafte Notfallreaktion“ das Immunsystem oder kann auch weitere Krankheiten auslösen, zum Beispiel Bluthochdruck oder Schlaganfälle. Das alles kann speziell im CoronaUmfeld zu einer gefährlichen Konstellation führen.

Erfahren Sie nächste Woche im zweiten Teil des Interviews, warum manche Menschen stressanfälliger sind als andere und weshalb Stress-Reaktionen häufig erst Monate später auftreten.

Foto im Header © contrastwerkstatt / Foto © hannoversche